Gedankengänge

Emil Nolde 

Wer seinen Gefühlen hohe Bedeutung beimessen kann, ist imstande darüber schockiert zu sein, dass Emil Nolde ein Nazi war. Diesen Schock kann er annehmen, ohne gleich seine frühere Verehrung für den Maler Emil Nolde zu verleugnen. Oder doch nicht? Wieso geschieht es so selbstverständlich und massenhaft, die Begeisterung für die Idole zu verleugnen, sobald sie als böse entlarvt sind? Dem Massenmörder nicht zubilligen können, dass er als guter Familienvater erlebt wurde. Das sind Beispiele für die gesellschaftlich erwartete, gar unter dem Empathiezwang geforderte Unfähigkeit, Unvereinbares nebeneinander bestehen zu lassen. Sollen wir beim Zeitgeist Ambiguitätstoleranz einfordern, wenn die öffentliche Moral verlangt, Bilder von Emil Nolde abzuhängen, nachdem die mediale Öffentlichkeit entdeckt hat, dass er Nazi war? 

Vielleicht ein lohnendes Experiment: Sich die Überzeugung einbilden, dass es Widersprüche gibt in der Welt und in den Menschen. Dass jemand gleichzeitig kriminell und sozial engagiert sein kann. Muss ich mich gegen die Gleichzeitigkeit des Gegensatzes wehren, weil sonst die Orientierung verloren ginge, dass jemand entweder gut oder böse ist? Was widerfährt mir, wenn ich annehme, dass beide Tendenzen in einem Menschen existieren und aktiv werden können? Was in mir ist darauf angewiesen, dass es nur ein „wahres Ich“ eines Menschen gibt? 

Muss ich dafür das Vertrauen aufgeben, das mir die positive Voreingenommenheit ermöglicht, offen und ohne Arg auf andere Menschen zuzugehen? Das mich arglos einkaufen gehen lässt in dem guten Glauben, dass die Lebensmittel, die ich einkaufe, nicht vergiftet sind? Dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, lehrt uns die alltägliche Erfahrung. Im Konsumalltag kommen wir offenbar ganz ohne Misstrauen aus. Brauchen wir deshalb die radikale Abkehr, wenn unser Vertrauen in das Idol enttäuscht worden ist? So enttäuscht, dass wir uns hintergangen und sogar missbraucht fühlen. Verhilft uns nur die Verurteilung des ehemaligen Idols zum alten Gleichgewicht? Stefan Zweig stellt fest: „Nichts nun verzeihen die Menschen weniger, als in einer ehrlichen Begeisterung ernüchtert und von einem Manne, von dem sie alles erwartet, sich hinterrücks enttäuscht zu sehen.“ („Das erste Wort über den Ozean“, in: Sternstunden der Menschheit)

Vielleicht ist es doch möglich, zuversichtlich zwischen Vertrauen und Misstrauen zu balancieren.

Greta Thunberg und der zwölfjährige Jesus

Beim Betrachten des Bildes „Der zwölfjährige Jesus unter den Schriftgelehrten“, gemalt von Matthias Stom, einem Caravaggisten, in der Alten Pinakothek in München fiel mir der Umgang mancher Politiker mit der Umweltaktivistin Greta Thunberg ein. Ich sah sie umringt von verspottenden Männern mit Menschenverstand, getragen von dem satten Gefühl ihrer globalen Umweltkompetenz. Ich sehe vor mir die Gesichter von „Sache für Profis“-Lindner, „Menschenverstand“-Scheuer, „Arme Greta!“-Ziemiak, €-Juncker.

Ich erkläre nicht die historische Vorlage, da ich keine Allgemeinbildung vermitteln möchte. Wer sich für die Geschichte von dem zwölfjährigen Jesus im Tempel interessiert, findet sie an vielen Stellen beschrieben, z.B. in der Bibel. Es geht mir um das Muster der „Gruppendynamik“ in den Szenen. Ein Knabe in der einen, eine Schülerin in der anderen. Beide sind jung und für die Allgemeinheit als unerfahren in wichtigen Dingen des Lebens anzusehen. Beide scheinen getrieben von einer Mission und von einer Weisheit, die keine Erfahrung und keine Meriten braucht, sondern nur Einsicht und die feste Überzeugung, dass die Einsicht Konsequenzen verlangt und dass jetzt gehandelt werden muss.

Meiner Beschreibung und Einordnung der beiden Szenen liegt die philosophische Ansicht zugrunde, dass Muster von Interaktionsdynamiken nicht auf bestimmte Sparten beschränkt sind. Dass es keine politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Dynamik-Muster gibt, sondern nur Muster, die menschliche Interaktionen prägen. Eine ähnliche Dynamik aus dem Bereich der Erziehung beschreibt Donna W. Cross in dem Roman „Die Päpstin“. Darin ist das Muster zu erkennen: Wer die Macht hat, hat das Sagen. Die Deutungshoheit liegt in der Hand der Mächtigen. Johannas intellektuelle Überlegenheit löst keine Freude darüber aus, dass dieses Mädchen so klug ist. Ihre Klugheit wird vielmehr als Wirken des Teufels erkannt, weil es für den allgemein gültigen Menschenverstand nicht sein kann, dass ein Mädchen klüger ist als ein Junge. Das ist nämlich gegen die Weltordnung. 

In allen Szenen finde ich den Sinn der radikalen Infragestellung der herrschenden Entscheidungskultur, der Entscheidungskultur der Herrschenden. 

(Tegernsee, 12. Mai 2019) 

Die Realität in der Schwebe halten? 

Was es so schwer und leidbringend macht mit Dementen umzugehen ist die eingeschworene Überzeugung, es gebe die richtige, wahre Realität und die richtige Ansicht darüber. Könnten wir leichter mit unseren Einbildungen von Realität umgehen, müssten wir nicht darauf bestehen, dass die Dementen Realitätslücken haben, die sie am realitätsgerechten Leben hindern. Wenn in unserer Lebenswelt die Identität von Sprache und Realität nicht so festgefroren wäre, könnte ich leichter ertragen, dass mein Vater mich nicht mehr als seinen Sohn erkennt und anerkennt. Ich könnte dann leichter annehmen, dass er eine andere Wirklichkeit hat, sich eine andere Wirklichkeit einbildet als diejenige, die ich mir einbilde. Habe ich Angst davor, ihm in einer anderen als der gewohnten Welt zu begegnen?

Machen wir uns auf den Weg die Selbstverständlichkeit der Wahrheit unserer Realität zu untersuchen. Steht zu befürchten, dass uns die Welt verloren geht, wenn wir unsere Realität nicht mehr für eindeutig und wahr – fest für wahr – halten? Wenn wir damit aufhören, andere Einbildungen heftig abzulehnen und unsere eigene zu verteidigen? 

Was droht mir, wenn ich die Identität von Sprache und Sein lockere? Wenn ich annehme, dass mir die Realität nur in Gestalt meiner Einbildungen zur Verfügung steht? Wird mir dann die Realität entgleiten und damit meine Lebensfähigkeit zerfallen? (Wie es Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos widerfährt, dem die bekannten und gewohnten Bedeutungen der Wörter entfallen, deren fest geglaubter Sinn sich auflöst.) 

22. Mai 2019

Die Rettung der Erde

Gewissheit – ein fatales Ziel

Der Jungfrau Maria danken

Jeder bekommt den Himmel, an den er glaubt.

In meiner Abneigung gegenüber der Aufklärungspropaganda, die ein für allemal erkannt hat, dass es kein Leben nach dem Tode gibt, dass der Gottesglaube und der Glaube an einen jenseitigen Himmel Humbug ist und finsterstes Mittelalter, stelle ich mir gerne vor: Jeder trifft nach dem Tod auf genau die Wirklichkeit, an die er im Leben geglaubt hat. 

Bevor ich die einzelnen Kulturen des Glaubens an die Wirklichkeit nach dem Tode durchgehe, muss ich noch klarstellen: Auch die Aufgeklärten haben über das, was nach dem Sterben ist, kein Wissen, sondern auch nur einen Glauben. Unter dem Aspekt Einbildung sind der Glaube an ein Jenseits mit Gott und der Glaube, dass nach dem Tod nichts ist, gleich. Beide Überzeugungen sehe ich als wissensfreie Glaubensvarianten. 

Ich bilde mir für ein paar Glaubenskulturen ein je spezielles Szenarium ein.

Die naiven Christgläubigen werden nach ihrem Tod in einen Himmel kommen mit Gesang und Frohlocken oder aber in eine Hölle mit den bekannten Qualen – je nach ihrer persönlichen oder kollektiven Überzeugung im Leben. Eine ihrer Freuden ist dann, dass sie mit ihrem Glauben doch im Recht waren.

Die islamistischen Selbstmordattentäter werden nach ihrem Tod von 77 Jungfrauen als Märtyrer gefeiert werden. Auch sie bekommen nach ihrem Tod im Jenseits die Bestätigung für ihre Überzeugung im Leben.

Auch für die Aufgeklärten, die fest daran glauben, dass nach dem Tod nichts ist, erfüllt sich im Jenseits ihr Glaube aus dem Diesseits. Sie können sich im Jenseits als einzige nicht darüber freuen, dass sie mit ihrer Glaubensgewissheit im diesseitigen Leben Recht hatten, da sie nach ihrem Tod nicht mehr sind.

Mit dieser Gleichsetzung unterschiedlicher Glaubensrichtungen möchte ich behaupten: Bei Glaubens- und Überzeugungskämpfen geht es erst in zweiter Linie um die Glaubensinhalte. In erster Linie geht es um Rechthabe-Kampf, um die Befriedigung des menschlichen Triebs der Rechthaberei. Je ungewisser die Fakten umso heftiger der Kampf.

Ich teile diese Vorstellung/Einbildung mit als Gedanken- und Vorstellungsexperiment. Gefunden habe ich sie im Rahmen von Coaching-Ausbildung, in der es phasenweise um mentale Beweglichkeit ging, um die Beweglichkeit beim Vorstellen und Annehmen unterschiedlicher Wirklichkeitsauffassungen. 

Auf dem Hintergrund dieser – vielleicht absonderlich erscheinenden – Einbildung möchte ich noch ein wenig über den in der Überschrift missbrauchten Ursprungssatz sinnieren: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Der allgemein übliche Sinn scheint wohl zu sein: Jeder hat es in der Hand, ob und dass er glücklich ist oder zumindest zufrieden. Wer sinnvoll und klug lebt, wird dafür mit einem glücklichen Leben belohnt. Er erkennt dann sein Leben als glücklich oder erfüllt. Das Leben ist dann (objektiv?) erfüllt.

Die allgemein gültige Standardbewertung geht wohl so vor: Wenn das Leben gemäss den Idealen und den im Vorhinein bestimmten (oder wissenschaftlich festgestellten) Faktoren verlaufen ist, ist es erfüllt. Es wird also geprüft, wieweit das Leben nach dem guten Plan verlaufen ist. Die Bewertung orientiert sich an Plan und Umsetzung. Wenn der Plan erfüllt ist, ist das Leben erfüllt. 

Ich schlage als Gedankenexperiment vor sich einzubilden: Das erfüllte Leben ist nicht die Bewertung aufgrund einer Erkenntnis, sondern das Ergebnis einer Entscheidung. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ heißt dann: Ich entscheide mich dafür, dass ich ein glückliches Leben habe bzw. gehabt habe. Auch hier: Meine Einbildung bestimmt, was wie ist.

(Juli 2020) 

Absicht und Wirkung als Antipoden in der Orientierung

Menschen werden von Absichten und Zielen getrieben und gezogen. Sie konzentrieren ihren Blick auf die Ziele, die sie anstreben, auf die erwünschten Wirkungen. Dabei bleiben die (Neben-)Wirkungen außerhalb des Blickfeldes – sind sie doch nicht beabsichtigt. Sie sollten und können mithilfe einer Blick-Erschütterung ins Gesichtsfeld und damit in die Aufmerksamkeit geholt werden. 

Als Beispiel für die Einschränkung des Blicks nehme ich Wirtschaftsunternehmen wie Nestlé und Konsorten. Bei der Ausbeutung der früheren „dritten Welt“ gab und gibt es sicherlich nicht die Absicht, die Natur, die Landschaft, das Wasser und damit die Lebensqualität der Einwohner zu zerstören. Diese Auswirkungen wurden wohl nicht einmal billigend, sondern nur kummervoll in Kauf genommen. 

Auch die Viehwirtschaftsindustrie hat sich nicht die Tierquälerei zum Ziel gesetzt und die Industrielandwirtschaft nicht die Ausrottung der Insekten. Der Blick war und ist auf die angestrebten Wirkungen konzentriert: gute Arbeit zu liefern und einen Gewinn zu erwirtschaften. Diese Vorsätze dürfen ein reines Gewissen haben. 

Einen Nährboden für dieses reine Gewissen sehe ich in der hohen Bedeutung der Vorsätzlichkeit bei der Feststellung von Schuld – nicht nur in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft überhaupt. Ein Blick in eine Gegenwelt mit dem Vorrang auf der Wirkung der Tat zeigt: Für die Auswirkung einer Tat ist der Vorsatz irrelevant. Die Wirklichkeit fragt beim Erzeugen der Wirkung nicht nach den Absichten und Motiven des Täters. Tot ist tot. 

Vielleicht ist eine Wirkung dieser gesellschaftlichen Orientierung an der Absicht die bisweilen beklagte Konzentration auf den Täter, in der Berichterstattung und auch im Gerichtsverfahren. Die Schwere der Tat bekommt nur allmählich das Gegenüber der Schwere der Wirkung. Diese Entwicklung ist in der Bundesrepublik erkennbar im Umgang mit PKW-Raserei mit Todesfolge. Welche Motivation dahinter steckt, ist offen: Emanzipation der Wirkung gegenüber der Absicht oder doch eher die Abschreckung zu erhöhen. Dennoch: Eine Nebenwirkung dieser Entwicklung dürfte wohl sein, dass das Phänomen der unbeabsichtigten Wirkung deutlicher in den Blick gerät.

Wie kann eine Blick-Erschütterung aussehen? 

(Juli 2019)